Robert Kudielka

LE TEMPS RENDUE
Die andere Zeit der Bilder von Bignia Corradini

Wenn man mit der U-Bahn zu Bignia Corradinis Atelier in Berlin-Kreuzberg fährt, dann nimmt man die inzwischen zu Theaterruhm gelangte Linie 1 und steigt im Bahnhof Kottbusser Tor aus. Aber der schnelle und direkte Weg ist nicht immer der beste. Man kann auch noch einmal umsteigen und mit der Linie 8 eine Station weiter nach Norden fahren: zum Moritzplatz, der einstmals letzten Station vor der Mauer. Dann muß man ein paar Schritte zurücklaufen und hat Zeit nachzudenken, über die Zeit. Um die Galerie am Moritzplatz hatte sich Ende der siebziger Jahre eine Gruppe junger Künstler versammelt, namentlich Salomé, Fetting, Middendorf und Zimmer, die für einen nunmehr bereits historisch gewordenen Aufbruch der Malerei sorgten. Auch Bignia Corradini hat dort 1979 ausgestellt, obschon sie nicht, wie sie betont, zum engeren Kreis gehörte. Abzuheben liegt ihr nicht, wenigstens nicht in der Form, die Hölderlin als »in die Höhe fallen« bezeichnet hat. Ungewöhnlich hoch hinaus ist sie allerdings mit ihrem Atelier gelangt, dank eines Musikimpresarios mit dem zündenden Namen Rakete, der ihr einen Teil seiner Kreuzberger Raumstation in Untermiete überließ. Von dieser Fabriketage im 5. Stock hat man einen weiten Ausblick auf jenen Teil der Stadt, der immer noch 'der andere' heißt. Aber auch das wird sich ändern. Schon sind die Wohnwagen und Unterstände der Wohnsitzlosen auf den ehemaligen Todesstreifen vorgerückt. Bald wird Kreuzberg, dieses schäbige Nest der Studenten, Türken und Künstler, wieder im Zentrum von Berlin liegen. Dann wird auch dieses Biotop der Vergangenheit angehören.

Aber Schluß mit der historischen Zeit, dem sentimentalen Praeteritum. Als ich die beiden letzten Male den Blick von dem Panorama mit der Michaelkirche umwandte, zurück auf die Atelierwand, hatte ich das Gefühl, als ob mich eine Art Gegenlicht blendete.

Peng

»Peng«, 1985, Acryl auf Leinwand, 150 x 160 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann

Peng (Abb.) lautet der Titel eines Bildes aus dem Jahre 1985. Dabei kenne ich die Corradini schon ziemlich lange, seit der Zeit, als sie ihr Studium, oder besser: ihre Verweildauer an der Hochschule der Künste abschloß und ich gerade zu lehren anfing; und diese Bekanntschaft wird durch den Begriff Freundschaft nur sehr unzulänglich, allzu menschlich umschrieben, da sie im Kern durch an sich unverzeihliche 'Unterbrüche', wie man in der Schweiz sagt, also durch lange Strecken des Schweigens und Vergessens, gekennzeichnet ist. Ein- oder, wenn es hochkommt, zweimal im Jahr erhalte ich eine Postkarte oder einen Anruf - und dann mache ich mich auf den Weg, ohne eine Spur von Zweifel, daß alles noch so ist, wie es gewesen ist: daß nichts geschehen ist, außer daß sich die Bilder verändert haben. Diese schamlose Zuversicht ist nie enttäuscht worden. Denn Bignia Corradini ist sehr stetig in der Art und Weise, wie sie von einer Mine zur nächsten weitergeht; sie explodiert mit Geduld und Hartnäckigkeit. Und doch ist sie auch darin noch für eine Überraschung gut. Der Hang zur Stille, in der die Fetzen fliegen, dieser Tagtraum der sich überstürzenden Gefühle, der nach dem New York-Aufenthalt 1980 ihre Malerei erfaßt hat, dauert unvermindert an. Aber seit etwa 1985 ist der Modus der Plötzlichkeit fast unmerklich in eine andere Zeitform hinübergeglitten. Statt die Heftigkeit eines undurchschaubaren Ursprungs zu bekunden, stellen die Bilder nunmehr das Ereignis der Erregung selber dar. Ihre Gegenwart scheint nicht mehr das Ergebnis eines Vorgangs zu sein, sondern ein jäher Anfang, der sich in der Wahrnehmung ständig erneuert und erhält. Präsens ist angesagt.

Diese Entwicklung ist um so erstaunlicher, als die Zeit in der Regel gerade die strenge Gouvernante ist, die der Unmittelbarkeit des Ausdrucks die Flügel stutzt. Die Malerei der Gefühle erwartet auf Schritt und Tritt das Verdikt, das den geraden Sinn beugt, das höhnische Imperfekt 'Es war'. Es war einmal ein Gefühl, das schon auf Anhieb verpuffte, anstatt dicht und stark zu werden, denn zwischen der Intensität einer Empfindung und dem Ausdruck dieser Intensität besteht kein direkter Abbildungszusammenhang. Es waren für eine Zeit lang Bilder, die unerhört ausdrucksvoll schienen, solange wir uns selber darin wiederzuerkennen glaubten; und als wir weitermußten, blieben sie stumpf und blind, wie ausgediente Spiegel, zurück. Gerade die große Emphase erweist sich aus dem Abstand der Zeit oft als eine unbegreifliche oder gar künstliche Aufregung, die vielleicht nur deswegen so hoch schlug, weil im Grunde nichts los gewesen ist. Es waren vor allem immer wieder, seit es das Problem des Expressionismus in der modernen Kunst gibt, junge Maler, die ihr Anliegen unwillkürlich verrieten und ihre Ausdruckskraft in bester Absicht schwächten, indem sie die Gefühle mit der Zeit kennen und deren Ausdruck meistern lernten. Denn die ursprüngliche Empfindung und ihr künstlerischer Ausdruck folgen nicht einfach aufeinander, wie eines aus dem anderen, sondern sind durch einen inneren Widerspruch miteinander verbunden, gleichsam gegenstrebig aneinander gekettet. Ein Gefühl, das sich der Darstellung nicht widersetzte, ist entweder unecht oder so gut wie tot. Der vollkommen beherrschte Ausdruck wäre vermutlich ebenso hohl, wie das fassungslose Ungestüm nichtssagend ist.

Der direkte Weg führt also in eine Sackgasse. Die Zeit, in der die Empfindungen spielen, verweigert die Potenzierung der Gegenwart, den spontanen Zusammenfall von Gefühl und Ausdruck; zerstreut die bloß emphatische Befrachtung des Augenblicks, indem sie allen Formen der Anbiederung, der angetragenen 'Zeitgemäßheit', umgehend wieder entweicht; und entzieht dem sturen Fortgang des Wollens hinterrücks den Boden. Matisse hat daher der Spontaneität des Ausdruckswolles von vornherein aufgekündigt: »La spontanéité n'est pas ce, que je recherche.« Die Absage richtete sich freilich nicht gegen das Gefühl, sondern schien ihm, gerade umgekehrt, eine unerläßliche Vorentscheidung zu sein, um zu dessen bildnerischer Verwirklichung zu gelangen. »Je ne pense qu' à rendre mon émotion«, lautet der bekannte Kehrsatz. Man kann offenbar nicht beides zugleich wollen bzw. in einer Richtung verfolgen, ohne daß die Spontaneität des Anfangs und das Ende des Ausdrucks einander in die Quere kommen. Der Häuptling der ersten 'Wilden', den sie »Monsieur le Docteur« nannten, hat die Unmittelbarkeit des Gefühls seiner Wiederfindung im Bild geopfert; und ist dadurch bekanntlich wie beiläufig zu jener stupenden Direktheit mit der Feder und der Schere gelangt.

Der Weg, den Bignia Corradini eingeschlagen hat, ist ein anderer, scheinbar geradezu entgegengesetzter. Nach ihrer Rückkehr aus New York hat sie keinerlei Anstalten gemacht, die eskalierende Vehemenz ihrer Malerei in den Griff zu bekommen: das Bündel der Beweggründe zu entflechten und ihre Absichten klarer zu fassen. Sie hat das bestürzende Zugleich der Empfindungen, das vor ihr aufbrach, vielmehr rückhaltlos akzeptiert, in seiner ganzen Wirrnis und Schleierhaftigkeit - und einfach angefangen, diese spontane Anwandlung, das Hin- und Hergerissensein im Akt der Artikulation, zu formulieren. Man kann in der Kunst auch immer in die Gegenrichtung gehen, vorausgesetzt, die Umkehrung wird nicht als einfache Alternative ergriffen, sondern bleibt ein und demselben Spannungsbogen überantwortet. Das heißt, es geht Bignia Corradini letztlich ebenfalls um den Ausdruck ihrer Gefühle, nicht um eine Demonstration malerischer Spontaneität. Aber was sie empfindet, scheint gerade nicht so eindeutig feststellbar. Ihr innerer Sinn gleicht eher dem Pendel, das auf dem höchsten Punkt des Ausschlags zurückschwingt, als der Waage, die sich ins Gleichgewicht richten läßt. Deswegen sucht sie nicht die entsprechenden Gewichte in der Anschauung, sondern steuert unmittelbar aus der Bewegung der Malerei heraus den Umschlagpunkt an, wo die Fliehkräfte für einen Augenblick still werden. Das ist freilich nicht von Anfang an dermaßen deutlich gewesen.

Pendel I

»Pendel I«, 1984, Acryl auf Leinwand, 160 x 150 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann

In den Jahren 1981-1983 sind ihre Bilder von groben Splitterformen, Fetzen und Brocken, bestimmt gewesen, die in einem lichten, diaphanen Raum eine eigentümliche Choreographie des Torkelns und Taumelns, der grund- und ziellosen Bewegungen aufführten. (Abb.) Ich habe damals geglaubt, das sei der Beginn einer Festigung ihres Vokabulars. Denkste, sagt der Berliner. Sie hat die Bestimmtheit des Idioms schrittweise aufzulösen begonnen, bis die Formalität fast völlig gebrochen und die Figur-Grund Beziehung weitgehend eliminiert war.

Fetzen

»Fetzen«, 1981, Acryl auf Leinwand, 245 x 145 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann

Der gegenwärtige Ort der Malerei von Bignia Corradini ist ein Grat mit zwei abschüssigen Seiten: Die Bilder sind gestisch ohne Duktus - und expressiv in einem nicht-expressionistischen Sinne. Ihr Ausdruck ist kein Ausfluß der Handschrift, geschweige denn ein Reflex jener Gestikulation aus der Schulter, die meist nur die Beschränktheit des menschlichen Bewegungsapparates vorführt. Die explosive Wucht beruht vielmehr gerade auf der inneren Gebrochenheit der Faktur. »Es wird geschüttet und verstrichen, gespachtelt und mit Händen und Fingern.«, notiert die Malerin. Das Entscheidende jedoch ist, daß diese Verfahren nicht gleichmäßig ineinander verrührt werden, sondern in der Konstitution des Bildes einander so abrupt abwechseln, wie die verschiedenen Modi der Pinselschrift. »Der Pinselstrich/-hieb ist: gefaßt / schnell / gesetzt / in relativer Ruhe die Tat vollbracht / fast 'wie leer'.« Statt auf bestimmte Formen und Zeichen auszugehen, ist diese Malerei sozusagen ständig auf dem Sprung, vom Fleck zum Tupfer zum Kringel zum Tropfen zum Schlenker zur Linie usf., und zurück, überquer und mittendurch: in einer rapiden Flexion, deren Momente in ihrer Funktion obendrein noch changieren. Ein Fleck mag Aufbruch, Schwerpunkt oder Pause sein; eben noch unschlüssig und tändelnd, wandelt sich die Linie im nächsten Augenblick zum Peitschenschlag, der knallt, beschleunigt, zusammenzucken läßt; und in den Bildern des letzten Jahres, z.B. in Komet (1990), taucht erstmals auch die scharfe Kante, die Schnitt und Stoßfuge gleichermaßen ist, auf. Die Liste der plastischen Ambivalenzen ließe sich beliebig erweitern, aber das Gestaltungskalkül zu sehen ist wichtiger als die Vollständigkeit der Aufzählung: »Zwischen 'gar nichts' und 'etwas' gehen«, lautet die Devise, d.h. die Zeit annehmen. Der gebrochene, ungleichartige und diskontinuierliche Vortrag artikuliert gerade die zeitliche Totalität der Empfindung. Die chinesische Malerei hat das immer gewußt. Die Unterbrechung - die verdeckte Flußbiegung, die teilweise verhüllte Silhouette eines Berges - hat ihr erlaubt, vom Dasein in einer Maßstäblichkeit zu handeln, die sich der gleichmäßigen Vergegenwärtigung entzieht. Bignia Corradinis Malerei hat mit dieser entlegenen Kunsttradition nichts gemein, außer der verwirrenden, sehr alten und wiederum modernen Entdeckung, daß im Augenblick des Umschlagens, und nicht in der einfachen Steigerung, das Gefühl seine größte Spannweite und Dichte erreicht.

Die bloße Kombination heterogener Ausdrucksmittel ergibt freilich noch nicht, wie heute gerne geglaubt wird, die Konkretion einer Empfindung. Die vermeintlich post-moderne Inszenierung des zerstreuten Bewußtseins ist im Grunde nur das objektive Pendant zum ungehaltenen Ausdruckswillen: Sie simuliert auf kaltem Wege die künstliche Aufregung, die dieser sich noch heißen Herzens vermitteln zu müssen glaubte. Beide ignorieren die Schlüsselrolle der Zeit für das Zustandekommen des plastischen Ausdrucks. Denn erst der Zusammenhang der verschiedenen Merkmale und Verfahren im Bild entscheidet darüber, ob das jeweilige Moment (im Sinne von Bewegungsmittel) tatsächlich momentan (im Sinne der Augenblicklichkeit der Erfahrung) wird - oder nur ein Souvenir in der endlosen Flucht der Gefühle ist. Bignia Corradini hat seit 1985 auf diese Präsenz, die sich nicht stellen läßt, hingearbeitet. Dabei hat sich rein äusserlich das Format ihrer Bilder verändert. Das Quadrat ist zum bevorzugten Schauplatz des Geschehens geworden; genauer gesagt, die Empfindung des Quadrats, die immer etwas mehr Höhe erfordert, als die mathematische Richtigkeit zuläßt. Diesem Ausgleich der Achsen entspricht im Innern ein dynamischer Aufriß, dessen einfachste Ausprägung das Bild für vier Ecken aus dem Jahre 1985 bereits in seinem Titel nennt. Die Komposition ist von den vier Ecken her in einer solchen Weise gespannt, daß eine offene Zone im Zentrum entsteht.

Jurmo

»Jurmo«, 1986, Acryl auf Leinwand, 160 x 150 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann

Eine ganze Reihe von Bildern der Jahre 1985-86, wie Bing, Wurf, Indis oder auch Jurmo, (Abb.) entspricht diesem Typus. Allerdings scheint nicht die diagonale Spannung von der Peripherie her der entscheidende Faktor, sondern die eigentümliche Aussparung der Mitte. Der Schwerpunkt kann ein wenig zur Seite verlagert sein, wie in Aufbruch und Einsatz (beide 1986); die Akzentuierung von nur drei Ecken, etwa in Gegenspieler (1987) oder Fächer und Zeitraffer (beide 1989), mag ein internes Ungleichgewicht ins Spiel bringen; es gibt Bilder, die ausgesprochen vertikal angelegt sind, vor allem Abbrecher (1987) und Winker (1989), und andere, wie Nordrampe, Zungenbrecher IV (beide 1989) und Zwielicht (1990), die eher eine passagenhafte Bewegung zeigen. Aber trotz dieser erheblichen strukturellen Abweichungen erscheint die größte plastische Tiefe jeweils ungefähr im Zentrum des Gevierts. Von dorther bricht der Raum auf Jurmo, (Abb.) dahinein löst sich die Spannung auf Wurf (Abb.); dort kommt die Bewegung zum Stehen Japan (1987) oder bilden sich unter Umständen diffuse Blindstellen heraus Abbrecher.

Wurf

»Wurf«, 1986, Acryl auf Leinwand, 160 x 150 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann

Die Konstellation der Orte und Gewichte ist jedoch nur der eine Aspekt der Struktur. Die reinen Verhältnisse zwischen Hier und Dort erklären an sich noch nicht, weshalb die Bilder derart plötzlich und vehement aus der Tiefe des Raumes aufspringen. Die Erklärung liegt offensichtlich in eben dieser Sprunghaftigkeit der Anschauung beschlossen: nämlich in der schieren Wahrnehmungstatsache, daß diese Anwandlung auf keinen Grund hin hintergehbar ist. »Die Tiefe des Bildes (und ebenso die gemalte Höhe und Breite) tragen sich von irgendwoher auf«, hat Merleau-Ponty über Cézannes Spätwerk gesagt. Die Eigenart dieser Bildform hat Bignia Corradini zunächst ziemlich zu schaffen gemacht. Denn erstens ist sie gar nicht so leicht einzulösen, und zweitens ist ihre Verbindlichkeit nicht unbedingt zwingend. Es gibt auch andere, genauso legitime Weisen, einen Bildraum zu bauen. Wer sich allerdings auf die Spontanität der Gefühle einläßt, verstrickt sich alsbald in das Problem, daß unsere Empfindungen, obwohl sie nie ohne Anlaß sind, eigentlich keinen zureichenden Grund haben. Zwischen der Weise ihres Auftretens und dem Anstoß, der sie auslöst, besteht kein notwendiger Zusammenhang. Der gleiche Anlaß mag unterschiedliche Emotionen hervorrufen, verschiedene Vorfälle hingegen ähnliche. Diesem relativen Eigenleben der Empfindungen einen Raum zu geben, verlangt von der Malerei eine sehr abstrakte, die gewohnten Anhaltspunkte meidende und gegen jegliche Art von Festschreibung, auch die des eigenen Vorgehens, gerichtete Anstrengung. Schon eine einfache Sukzession von Hell nach Dunkel (oder umgekehrt) schafft z.B. einen Verlauf von Hier nach Dort, eine festgelegte Distanz, die im Gewebe der Empfindungen wie ein Fremdkörper wirkt. 'Hinten' liegt für unser Gefühl nicht in der Tiefe des Bildes, sondern stellt eine relative Ferne in der optischen Perspektive vor.

In den Bildern der späten achtziger Jahre hat Bignia Corradini diesen Effekt, die unfreiwillige Landschaftsillusion der abstrakten Malerei, weitgehend ausgeschaltet, indem sie das Kriterium der Brechung auch auf ihren Farbgebrauch ausdehnte. Das mag unmittelbar zu einer Verkürzung ihrer koloristischen Möglichkeiten geführt haben. Die Matrix des Schwarz-Weiß Kontrastes schlug unübersehbar durch. Andererseits gewann sie durch diese Konzentration die Möglichkeit, die Figur-Grund Beziehung aufzulösen und den spezifischen Raum der Empfindung zu organisieren. Obwohl im Detail natürlich jede Kontrastierung eine Absetzung von Ebenen hervorruft, erlaubt die Durchsetzung des Farbgefüges mit dem hochgradigen ambivalenten Weiß am Ende doch, einen Gesamtzusammenhang zu schaffen, in dem virtuell alle Verhältnisse und Positionen in Bewegung sind. Erst in einem solchen Raum konnten die Schwenks und Kippungen, Umschwünge und Drehungen von Bildern wie Aufschub (1986) oder Adapter (1989) ihren gehörigen Ort finden; und gar ein Aussenseiter namens Späte Auflösung,1989,(Abb.) gelingen, der zwei völlig verschiedene Bildcharaktere, einen diffusen Auftakt auf der linken und einen von irgendwoher aufsprossenden Kontrapunkt auf der rechten Seite, miteinander vereint. Wollte man den Raum dieser Bilder analysieren, bedürfte es einer höchst komplizierten Mathematik, um die ineinander verschobenen und vielfach gebrochenen Ebenen der Bewegungsabläufe deutlich zu machen.

Späte Auflösung

»Späte Auflösung«, 1989, Acryl auf Leinwand, 160 x 150 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann

Aber es kann gar nicht darum gehen, das Geheimnis dieser Malerei zu entziffern. Sie gewährt von sich aus und auf Anhieb mehr, als je aus ihr herauszuholen wäre: nämlich die plötzliche, unvermittelte Gegenwart einer Totalität von Erfahrung, die der Reflexion kläglich in lauter Widersprüchlichkeiten zerfällt. Bignia Corradini malt den Taumel, der gleichermaßen die Unbeholfenheit der Freude wie das Straucheln vor dem Sturz sein kann; sie malt die Auflösung, die je nach dem Gesichtspunkt befreiender Aufbruch, glückliches Ende oder drohender Verlust bedeuten mag - und dies womöglich alles auf einmal ist; und vor allem malt sie jenes Umschlagen, das man gewöhnlich bloß auf das Resultat hin sieht, ob es zum Vorteil oder zum Nachteil ausschlägt, anstatt die Brisanz des Vorgangs selber wahrzunehmen. Alle diese Empfindungen finden sich bis zu einem gewissen Grade in den Bildern wieder, ohne daß irgendeine von ihnen direkt repräsentiert würde, als dieser oder jener Gemütszustand. Abstrakte Kunst, die sich derart unmittelbar ins Leben mischte, wäre im schlimmsten Sinne abstrakt; denn sie vergäbe mit dem Leben auch noch die Signifikanz ihres Abstands dazu. Wiedergegeben wird vielmehr die in keiner Aktualität realisierte Einheit der Empfindung, der runde Sinn des Taumels und der Auflösung, die eine Zeit des Umschlags zwischen 'gar nichts' und 'etwas'. Also eine mögliche Gegenwart, die niemals so gewesen ist und so nie wirklich sein wird. Darin aber liegt gerade der eminente Rang der Darstellung. Wiedergeben heißt in dieser Malerei buchstäblich zurückerstatten (reddere, rendre, to render). Die Bilder geben das Gefühl, das spontan zerrissene, von Zu- und Abneigungen umgetriebene, aus seinen einschlägigen Verstrickungen zurück und in seiner reinen Bewegungsform wieder, indem sie aus der Konvulsivität heraus eine Art von Stand finden, worin Stürzen und Steigen einander die Waage halten und die Ausgelassenheit dem Scheitern nicht widerspricht. In die Kontinuität der ständig vor uns her schwindenden Gegenwart platzt unversehens ein völlig anderes Tempus: ein fulminanter, das Schneckenhaus der Kleinmut sprengender Augenblick, in dem das Maß der Freiheit für einmal voll ist.

August 1990

© Robert Kudielka, Berlin

in: Bignia Corradini: Bilder 1984-1990, Galerie Jörg Stummer (Hrsg), Zürich, 1990, 84 S., 32 Farb-Abb.


Robert Kudielka, Prof. Dr. Phil., geboren 1945 in Lindau/Bodensee. 1978-2010 Professor für Ästhetik und Theorie der Kunst an der Hochschule der Künste, langjähriger Dekan des Fachbereichs Bildende Kunst, heute Universität der Künste in Berlin. 1982–1984 Gastdozent am Royal College of Arts, London. Seit 1997 Mitglied der Akademie der Künste Berlin, Sektion Bildende Kunst. Von 2003 bis 2012 Direktor der Sektion Bildende Kunst. Zahlreiche Publikationen zur bildenden Kunst und philosophischen Ästhetik.

 

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