Sibylle Omlin

Farbe und Gegensatz – Emotionalität des Kontrasts. Bignia Corradini und Charles Boetschi

Einführung zur Eröffnung der Ausstellung am 26. August 2023 in der Galerie Adrian Bleisch

Ich freue mich, dass heute die zwei Kunstschaffenden Bignia Corradini und Charles Boetschi in der Ausstellung in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon vereint sind, die beide auf ihre eigene Weise mit Farbe und Emotionalität in den geometrischen, festgefügten Formen zu tun haben.

Als junge Kunsthistorikerin habe ich Ende der 1990er Jahre in Ausstellungen von Brigitte Weiss in Zürich und im Kunstraum Kreuzlingen Charles Boetschi kennenlernen können. Ich war damals Kunstkritikerin bei der NZZ und schrieb unter dem Titel ‘Emotionaliät des Kontrasts’ 1999 einen Beitrag in jenem Blatt zu Charles Boetschis ‘Color Units’. Damals begann für mich – und ich war gerade bei den Vorbereitungen zu der großen Ausstellung ‘Das Gedächtnis der Malerei’ im Aargauer Kunsthaus – die Auseinandersetzung als Kritikerin und Kunstvermittlerin mit der Malerei; und ich konnte feststellen, dass große Richtungen der Malerei nicht nur in den Zentren wie New York oder Berlin ihre Entwicklung nahmen, sondern an vielen Orten der Welt, sei es an einem großen See oder in einer Metropole.

Auch Bignia Corradini habe ich vor der Pandemie kennengelernt und für ihr Buch ‚Malerei/Painting 2000–2018’ (beim Kerber Verlag erschienen) einen Text verfasst. Bei Bignia Corradini waren Besuche im Atelier in Berlin vorangegangen, wo ich ihrer von starken Gesten und Gegensätzen bestimmten abstrakten Malerei begegnete. Und entdeckte, dass auch diese Malerei von Ungegenständlichkeit und strengen geometrischen Formen wie das Quadrat und dem Tondo bestimmt ist.

Die beiden Künstler*innen haben sich zu Lebzeiten nie getroffen. Und auf den ersten Blick scheint ihr jeweiliger Umgang mit der Abstraktion unvereinbar. In dieser Ausstellung nehmen wir auf den ersten Blick Gegensätze wahr – bei Charles Boetschi gerade Linien und Strenge, bei Bignia Corradini Farbe, die Bewegung sichtbar macht, eine gebaute und konstruierte weit ausgreifende Expressivität. Was ihnen beiden gemeinsam ist: die Jahrzehnte lange Auseinandersetzung mit Farbe und geometrischen Formen und die Stadt New York, wo sie vielleicht – ohne es wissen – neben einander eine Straße überquert haben.

Beide Kunstschaffende haben sich den 1980er Jahren in New York aufgehalten oder gar länger da gelebt und die immer wieder neue Offenheit für ihr künstlerisches Schaffen gefunden. Charles Boetschi (geboren 1958 in Kalkutta, aufgewachsen in Hongkong und Japan) war nach seinem Studium in Zürich und Basel (1977–981) im Jahr 1982 nach New York gezogen und lebte dort in den aufregenden 1980er Jahren – immer noch die Factory von Andy Warhol, Drogen, Aids – in dieser Stadt. 1989 kam er in den Thurgau, wo er bis zu seinem frühen Tod 2006 lebte. Charles Boetschi richtete 1993 seine Ausstellung im Kunstmuseum des Kantons ein und realisierte bis zu seinem frühen Tod 2006 verschiedenen Kunst- und Bau Arbeiten in der Ostschweiz.

Bignia Corradini (1951 geboren in Zürich) lebt und arbeitet seit den frühen 1970er Jahren in Berlin, wo sie 1973 – 1977 Malerei an der Hochschule der Künste Berlin (heute UdK) bei Prof. Hermann Bachmann studierte. Die Künstlerin hat 1998 in der Galerie von Adrian Bleisch in Arbon ausgestellt und war in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in der Ostschweiz präsent, u.a. 1982 mit einer Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau. Auch sie war als junge Malerin in New York. 1981 war ihr erster längerer New Yorker Aufenthalt im Atelier der Stadt Zürich. 1988 war ihr zweiter, einjähriger Arbeitsaufenthalt in New York. Es entstanden Arbeiten auf Papier: ‚Das Übermalen von Musterbüchern‘. Die Dover Publikation ‚Arabic geometrical Pattern and Design‘ mit ihren linearen, streng geometrischen Wiederholungen wurde mehrfach und in verschiedener Weise mit Aquarell bearbeitet und stellten erste Begegnungen mit abstrakten Mustern dar.

Schauen wir zunächst auf Charles Boetschis Bilder. Der Künstler fand in New zu seinen Acryl-Werken ‘Color Units’. Angeregt von der Minimal Art setzte der Künstler für seine quadratischen Formate eine Bildkonzeption, die auf acht gleich großen rechteckigen Feldern beruht und Farbkompositionen von zwei bis fünf Farben pro ‘Color Unit’ zulässt.

Charles Boetschi wählte seine Farbgegensätze intuitiv. Er zielt mit seiner eigenwilligen Farbwahl und dem fast provokativ makellosen Farbauftrag auf das Ereignis zwischen Farbe und Form. Am eindrücklichsten zeigt sich das in den großformatigen Bildern (200 x 200 cm und 120x120cm). Boetschis Thema ist das unendliche Widerspiel von Figur und Grund, dass er zu fassen und ins Bild zu setzen sucht. Er betreibt mit Pinsel und Acrylfarbe eine Art Grundlagenforschung der Wahrnehmung, die in ihrer Klarheit und Nachvollziehbarkeit viel Donald Judd verdankt. Das betrifft zunächst einmal die konstruktive Anlage des Bildes. Seit seiner Rückkehr aus New York 1989 verwendet Boetschi nur noch quadratische Formate. Die acht gleich großen Rechtecke wurden zunächst horizontal in zwei nebeneinander liegende, doch versetzt angeordnete Reihen gelagert.

Mit jeder Serie wechselte die Farbigkeit, bald auch die Anordnung der Rechtecke auf der Fläche. So gibt eine U-förmige Umrandung, die in einer Farbe gehalten ist, dem quadratischen Format tendenziell ein Drehmoment mit, das den Stapel aus Farben in der Mitte als vertikale Achse scheinbar durchbricht. Diese Achse wiederum wird im Spätwerk dadurch irritiert, dass die beiden oberste Balken farblich zu einem Quadrat zusammengefasst sind, das sich jedoch am Rand der Bildfläche jeder Zentrierung verweigert. Der Gewinn dieser Annäherung ist eine verstärkte, visuelle Dynamik. Je länger man Charles Boetschis Bilder betrachtet, desto bewegter werden sie.

Bewegte, expressive Farbflüsse bestimmen auch Bignia Corradinis künstlerische Arbeit. Die Farben treten gleichberechtigt zusammen, stören sich, verbinden sich, überlagern sich, durchdringen sich, bauen Brücken als wären sie lebendig. Immer aufs Neue findet Corradini eine Struktur, das Unbändige in einer Form, einem fragilen Gleichgewicht, einer Verdichtung zu setzen. Spannung und Fluss in den Übergängen ist ihr Thema. Über Brüche und Stillstand hinweg entwickeln sich die Energien in ihren Bildern. Ihre Farbwelten sind differenziert gestaltet – die Farbe wird zuerst in Schichten, später aber auch opak auftragen. Die Flächen auf dem Bild sind von klaren Farbkontrasten auf dem Farbkreis bestimmt – kalt und warm, hell und dunkel.

Bignia Corradini schickte mir vor der Vernissage einen kurzen Text, in dem sie das, was sie beim Malen umtreibt, sehr genau beschreibt. Ich zitiere eine kurze Stelle: «Ja, im Prozess des Malens, wo sich alles rollt, grollt, unstimmig schwellt, ungreifbar aufleuchtet, einzelne Stücke [..] einfach nicht zusammen gehen, uneinheitlich sich nebeneinander einfach platzieren wollen. Das Ganze ein zerstückeltes Etwas, einzelne Elemente, Bruchstücke […] aus Untiefen auf einmal da. Wenig geht zusammen. Chaos wäre ein zu einheitliches Wort dafür. […] Immer dasselbe, im Atelier rumschleichen oder -tigern, nicht können, unzufrieden, Spannung aufbauen, bis irgendwann die Nerven fast reißen. Schluss jetzt damit und ich gebe es dem Bild zurück.»

Bignia Corradinis Malprozess ist also von starken Bewegungen im Raum und auf der Bild-Fläche bestimmt. Sie malt, deckt was ab, überklebt, spritzt und malt darüber. Später, wenn der Bildprozess schon fortgeschritten ist, versucht sie zu übernehmen und zu verbinden. Die Künstlerin betont Stränge, Bahnen, die im Bildformat durchgehen; auch Abläufe, die durch etwas hindurchführen. Es gibt in ihrer Malerei also wilde Gegensätze, aber auch Zentren und Bündelungen, Gewichte und Richtungen, Zersplitterungen und laufende Energiebahnen, Rhythmen. Diese Aufzählungen vermitteln vielleicht etwas von der Emotion und gleichzeitigen Ruhe, die in ihren Bildern zu finden sind.

Beide Maler*innen sind Forschungsreisende im Gebiet der Wahrnehmung von abstrakten Farben, und beide erzeugen Ereignisse aus der Begegnung von Farben und Flächen, sie legen besonderes Augenmerk auf die Zonen des Übergangs, das Vibrieren an den Rändern. Und beide sind Jahrzehnte lang in der Emotion der Farbe geblieben, haben den eigenen Weg mit großer Konsequenz verfolgt, in der Strenge wie in der Wildheit.


© Sibylle Omlin, Aven und Zürich

Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Farbe und Gegensatz - Emotionalität des Kontrasts. Bignia Corradini und Charles Boetschi« in der Galerie Adrian Bleisch, Arbon am 26. August 2023



Arbon Bild nach Ansprache

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2023 / Peter Koehl, Aarau

 

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